Tagebau Garzweiler II
Der Strukturwandel im Rheinischen Revier stellt eine der größten regionalen Transformationsaufgaben in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Mit der Vereinbarung zwischen dem Bund, dem Land NRW und der RWE AG im Oktober 2022 wurde der Braunkohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vorgezogen. Diese Entscheidung hat weitreichende Folgen für die Region: Durch den Kohleausstieg im Jahr 2030 wird nur noch die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Abbaufeldes im Tagebau Garzweiler II in Anspruch genommen. Dadurch bleiben mindestens 280 Millionen Tonnen Kohle im Boden.
Die Dimension dieses Wandels wird deutlich, wenn man die Zahlen betrachtet: Der Strukturwandel in Rheinischen Revier wird mit 14,8 Milliarden Euro gemeinsam von Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen gefördert. Diese Investition fließt in eine Vielzahl von Projekten, die das Revier zu ersten klimaneutralen und nachhaltigen Industrieregion Europas transformieren sollen.
Die Landesregierung hat 2024 strategische Weichenstellungen vorgenommen: Das Kabinett hat sich am Dienstag, 19. März 2024, auf 19 Ankerprojekte verständigt. Damit wird die Transformation des Reviers maßgeblich vorangetrieben. Diese Ankerprojekte sind zentral für eine erfolgreiche, zügige und sichtbare Umsetzung des Strukturwandels und umfassen verschiedene Bereiche:
Innovative Technologien und Forschung: Projekte wie das Graduiertenkolleg "Circular E-Cars" entwickeln neue Recycling-Verfahren für Elektroautos, während wasserstoffbasierte Technologien im Mittelpunkt mehrerer Vorhaben stehen.
Nachhaltige Landwirtschaft: Das Zentrum für Innovationen in der Land- und Ernährungswirtschaft soll technologische und gesellschaftliche Innovationen zur Steigerung wirtschaftlicher Wertschöpfung entlang der gesamten Wertschöpfungskette nutzbar machen.
Klimaanpassung: Eine internationale Messe der Klimaanpassungswirtschaft ist für 2025 geplant, die Produkte, Technologien und Dienstleistungen sowie Lösungen für Klimaanpassung ausstellt.
Der 2017 gegründete Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler hat sich als zentraler Akteur des Strukturwandels etabliert. Mit seinen fünf Mitgliedskommunen Mönchengladbach, Erkelenz, Grevenbroich, Jüchen und Titz umfasst er ein Gebiet mit mehr als 400.000 Einwohnern. 2022 wurde der Verband mit dem "Landespreis für innovative interkommunale Projekte" in Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.
Die Vision des Zweckverbands reicht weit über den Kohleausstieg hinaus: Das "Drehbuch für die Region" mit der Zielmarke 2075 markiert einen Perspektivwechsel. Erstmals wurde ein positives Zukunftsbild für die Zeit nach dem Tagebau entwickelt, das heute die strategische Grundlage für die Raumentwicklungsperspektive bildet.
Ein zentrales Element der Zukunftsvision ist das Blau-Grüne Band Garzweiler, das sich als verbindende grüne Struktur rund um den Tagebau entwickelt. Diese innovative Landschaftsgestaltung kombiniert Funktionen des Sicht- und Emissionsschutzes mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten: "Eine rund um den Tagebau verbindende und erkennbare grüne Struktur, die Durchblicke und Einblicke ermöglicht und die Funktion des Sicht- und Emissionsschutzes übernimmt."
Das Blau-Grüne Band wird zu einem 23 Kilometer langen Rad- und Wanderweg ausgebaut und bietet Raum für Artenschutz, Biodiversität, traditionelle und neue Formen von Landwirtschaft sowie Erholung. Damit wird die Vergangenheit nicht vergessen, sondern die Geschichte des Tagebaus sichtbar gemacht und gleichzeitig ein Laborraum für neue Technologien und Zukunftsvisionen geschaffen.
Ein besonderer Höhepunkt der Strukturwandel-Projekte ist die Internationale Gartenausstellung (IGA) 2037, für die der Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler Ende 2024 den Zuschlag erhielt. Die Deutsche Bundesgartenschau-Gesellschaft vergab die Ausrichtung einstimmig an den Zweckverband. Als dezentrale Gartenausstellung wird sie rund um den entstehenden See entwickelt, dessen Befüllung 2036 starten soll.
Die IGA 2037 erwartet mindestens 1,8 Millionen Gäste und liegt strategisch günstig im Herzen eines europäischen Ballungsraums: Allein in einem Einzugsgebiet von rund 60 Minuten Fahrzeit leben rund 12 Millionen Menschen. Das Projekt fungiert als Entwicklungsprogramm für die entstehenden Lebensräume und bündelt viele laufende Planungen des Zweckverbands.
Parallel zu den landschaftlichen Entwicklungen entsteht das Innovation Valley Garzweiler als Raum für innovatives Leben und Arbeiten. Studien und Planungen entstehen zu Teilbereichen der rekultivierten Tagebauflächen, darunter die Masterplanung eines 2.200 Hektar großen Sees und Wissens- und Innovationshubs für Unternehmensansiedlungen.
Das Innovation Valley bietet öffentlich geförderte Innovationsberatung für neue Geschäftsmodelle und unterstützt Start-ups, kleine Betriebe und mittelständische Unternehmen bei der Unternehmensentwicklung, insbesondere bei Nachhaltigkeitsprojekten und Digitalisierungsvorhaben.
In diesem umfassenden Transformationsprozess nimmt das Dokumentationszentrum Tagebau Garzweiler eine besondere Rolle ein. Es ist das erste Hochbauprojekt im Blau-Grünen Band und wird in Erkelenz-Holzweiler errichtet – einer Ortschaft, die bis 2016 selbst für die Umsiedlung vorgesehen war. Die Symbolik ist bemerkenswert: Nur gut hundert Meter vom Tagebau entfernt entsteht ein Ort der Erinnerung und des Aufbruchs.
Architektur als Statement: Der außergewöhnliche Bau erinnert in seiner Gestaltung an die typischen Formen und Erdschichten eines Tagebaus. Das Gebäude wird als klimaneutraler Holzbau mit Photovoltaik-Anlagen, Erdwärme und einem begehbaren Dach mit Grünsystem realisiert.
Multifunktionales Zentrum: Auf 1.200 Quadratmetern entstehen neben der Dauerausstellung "Kulturlandschaft im Wandel" auch Veranstaltungsräume, Shop, Wechselausstellungsbereich und Gastronomie. Die 200 Quadratmeter große Dauerausstellung ist durch eine großzügige Fensterfront mit dem Tagebau verbunden.
Touristische Perspektive: Der Zweckverband rechnet nach einer Anlaufphase mit rund 60.000 Gästen jährlich ab 2030. Das Zentrum wird in ein Netz von Informationszentren an den großen Tagebaugebieten eingebunden und über komfortable Radverbindungen erschlossen.
Der Strukturwandel gewinnt weiter an Dynamik: Die Internationale Bau- und Technologieausstellung "Rheinisches Zukunftsrevier" soll in den Jahren 2025 bis 2035 die verschiedenen Maßnahmen in den Zukunftsfeldern präsentieren. Diese Ausstellung wird die Region als erste klimaneutrale und nachhaltige Industrieregion Europas vermarkten.
Ein besonders zukunftsweisender Baustein ist die Entwicklung von KI-Technologien: Mit dem Startschuss für LEAM (Large European AI Models) im Rheinischen Revier wurde eines der ambitioniertesten Innovationsprojekte für die europäische KI-Souveränität gestartet. Das geplante "Center for Sovereign AI" (CESAI) am Standort Hürth symbolisiert die Transformation vom Braunkohlestandort zum international vernetzten KI-Innovationscluster.
Der Strukturwandel ist nicht nur ein technisches und wirtschaftliches Projekt, sondern auch ein zutiefst politisches und gesellschaftliches Vorhaben. Die Bürgerbeteiligung spielt eine zentrale Rolle: Die Bürgerbeteiligung im Rheinischen Revier ermöglicht es den Menschen, aktiv an der Gestaltung des Strukturwandels mitzuwirken.
Die aktuelle Leitentscheidung 2023 der Landesregierung legt den Rahmen für Rekultivierungsziele und nachhaltige Entwicklungsperspektiven fest. Dabei stehen eine weiterhin starke Landwirtschaft, der konsequente Ausbau der Erneuerbaren Energien und eine klimaresiliente Siedlungsentwicklung im Mittelpunkt.
Der vorgezogene Kohleausstieg 2030 bringt sowohl Herausforderungen als auch Chancen mit sich. Fünf Dörfer in Erkelenz werden in ihrem Bestand gesichert und müssen – wie der erste Ort der Zukunft Morschenich – neu belebt werden. Das vorgezogene Ende des Braunkohleabbaus muss geordnet ablaufen und im Interesse der Menschen gestaltet werden.
Der entstehende Garzweiler-See wird mit seinem Wasservolumen von 2 Milliarden Kubikmetern und einer Fläche von 23 Quadratkilometern zu einem der größten Seen Deutschlands. Die Befüllung mit Rheinwasser über eine 45 Kilometer lange Pipeline wird etwa 70 Jahre dauern und neue Möglichkeiten für Tourismus und Erholung schaffen.